Warst du schonmal im Ausland und hast dort für längere Zeit gelebt und gearbeitet? Ich kann dir als Ersatz meine Erfahrung aus Kanada, genauer gesagt Vancouver, schildern. Die Umrechnung von kanadischen Dollar zum Euro liegt aktuell bei knapp 1,4. Das heißt $100.000 = 72.000€
- Die Brutto-Einkommen im Ingenieursbereich liegen bei der ersten Stelle bei ca. $80.000 pro Jahr, als erfahrener Ingenieur geht man schnell in Richtung $100.000 pro Jahr und mehr (Quelle 1, Quelle 2)
- Die Steuerlast ohne Rentenabzüge und Krankenversicherung liegt bei ca. 25% (Quelle 3)
- Für die Rentenversicherung sind ca. 8-10% des Bruttoeinkommens zu bezahlen (Quelle 4)
- Krankenversicherung kostet minimal $70 pro Monat (Quelle 5)
- Und das Beste bei Krankheit: Man hat nur eine gewisse Zahl von Tagen im Jahr, die man krank sein darf. Alles darüber hinaus wird nicht bezahlt. Seit dem 1. Januar 2022 und damit erst nach der Corona-Pandemie wurde diese Zahl auf 5 (in Buchstaben FÜNF) Tage pro Jahr angehoben. Ihr denkt das war alles zur Krankheit während der Arbeitszeit? Haha, nein. Die Krankheitstage muss man sich verdienen! Ja, richtig gelesen, verdienen. Nach zwei Monaten Vollzeit hätte ich bei Krankheit ganze sechs Stunden bezahlt bekommen (lag aber auch daran, dass ich nur drei Monate im Steuerjahr 2022 in Kanada gearbeitet habe). Arbeiten von zu Hause aus ist möglich aber nicht zwangsweise gerne gesehen (hängt aber vom Arbeitgeber ab).
Das heißt: Die Steuerlast hier ist zunächst niedriger, 33-35% Steuerlast bei einem Brutto-Einkommen von z.B.: $140.000 (100.000€) ist etwas, dass es in Deutschland in der Tat nicht gibt. Krank sein muss man sich leisten können. Was nun aber alles relativiert sind die Kosten zum Leben.
- Eine unmöblierte Wohnung mit einem Schlafzimmer ("1 Bedroom Apartment", entspricht einer 2/3-Zimmer-Wohnung in Deutschland) im Großraum Vancouver kostet aktuell im Minimum $2.000 pro Monat (1.400€) in einem nicht ganz so schönen/sicheren Stadtteil. (Quelle 6)
- Für eine Familie, die 2 oder 3 Schlafzimmer benötigt, werden schnell $3.000 bzw. $5.000 pro Monat fällig (ebenfalls unmöbliert). (Quelle 6)
- Die durchschnittlichen Nebenkosten im Bundesstaat Britisch-Kolumbien liegen bei $293 pro Monat (Quelle 7)
- Der Benzin-Preis lag im Oktober bei durchschnittlich $2,06 bzw. 1,47€, was günstiger als in Deutschland ist. Da hier aber fast alle überall mit dem Auto hinfahren und dementsprechend mehr und länger mit dem Auto unterwegs sind, relativiert sich das wieder ein bisschen. Ein Leben ohne Auto hier ist möglich, aber deutlich schwieriger als in Deutschland. (Quelle 8)
- Ein überwiegend funktionierender, öffentlicher Nahverkehr existiert, ist aber nicht vergleichbar zu Deutschland. In der gesamten Metropolregion (2,5 Mio. Einwohner) gibt es 3 S-Bahn-Linien. Regionalzüge, Straßenbahnen oder U-Bahnen gibt es nicht. Der Rest wird mit Bussen im 10-15 Minuten Takt bedient. Dementsprechend sind die Züge und Busse zur Rush-Hour voll und eine Mitfahrt ist nicht immer garantiert.
Das Stromnetz hier ist im Vergleich zu Deutschland ein Witz. Die Leitungen liegen zum Großteil oberirdisch und sind an Holzmasten befestigt, die schiefer als der schiefe Turm von Pisa sind. Die Folge: Regelmäßige Stromausfälle, weil jemand gegen einen Masten gefahren ist, ein Baum auf die Leitungen gefallen ist oder ein Mast durch Altersschwäche umgefallen ist. Stromausfälle durch Vögel sind ebenfalls keine Seltenheit! Im Prinzip kann man das Stromnetz hier mit dem Oberleitungsnetz der DB vergleichen...
- In den letzten 14 Tagen waren im Großraum Vancouver 124.000 Kunden von Stromausfällen betroffen. Im gesamten Bundesstaat (5 Mio. Einwohner) waren es in den letzten 14 Tagen 290.000 Kunden. (Man bedenke, dass ein Kunde auch eine mehrköpfige Familie sein kann, sodass die Zahlen noch mit einem Faktor größer eins zu multiplizieren sind) (Quelle 9)
Wenn man über Familienplanung nachdenkt, denkt man natürlich über die Kosten für Bildung der Kinder nach:
- Kosten für die Schule reichen von $3.200 bis $48.000 pro Jahr je nach Schultyp. (Quelle 10)
- Kinderbetreuung im Kleinkindalter: Bis zu $16.800 pro Jahr (Quelle 10)
- Kosten für ein Studium (nur Einschreibung! Ohne Wohnung, Laptop, oder Ähnliches): ca. $5.000-$7.000 pro Jahr (Quelle 11)
Wenn man das zusammenfasst, sieht man, dass man hier zwar mehr Geld verdient und auch mehr Netto vom Brutto hat, dafür aber deutlich mehr für zum Beispiel Wohnung und insbesondere Bildung zahlt. Die Folgen der hohen Lebenshaltungskosten zeigen sich unter anderem im Stadtteil Chinatown/East Hastings: Eine Zeltstadt mit Menschen, die schnell in Drogen- und Alkoholprobleme abrutschen und keinen Kilometer von der reichen Downtown entfernt sind, wo alles schön, hipp und einfach ist (Google Street View, Quelle 12). Das Stromnetz ist unsicher und in die Jahre gekommen. Einen öffentlichen Nahverkehr gibt es, der funktioniert auch, aber eine Fahrt dauert schnell doppelt so lange wie mit dem Auto. Krank sein muss man sich leisten können oder sich verdienen. So etwas wie eine AU für zwei Wochen bezahlte Krankheit gibt es hier nicht.
Ums ganz kurz zu machen: Ein Leben in Kanada kann schön sein, ist aber an vielen Stellen nicht besser oder einfacher als das in Deutschland auch wenn man hier auf den ersten Blick mehr verdient. Es war definitiv schon mal einfacher in Deutschland zu leben, in anderen Ländern (auch in Ländern der ersten Welt, wenn man Katar und Co nicht beachtet) ist es nicht einfacher nur weil es dort auf den ersten Blick mehr Gehalt gibt. Ich weiß nun viele Dinge in Deutschland besser zu schätzen oder Dinge wie Arbeiterschutzgesetze, Krankenversicherung und nahezu kostenlose Bildung als nicht gegeben vorauszusetzen. Dafür zahle ich nun ohne Ironie gerne meine Steuern und Sozialabgaben von 40%.
Es gibt noch so viel mehr worüber ich berichten könnte: Den schlechten Zustand der Straßen, keine Fernzüge oder Alternativen zum Auto bzw. Flugzeug, Platzverschwendung, Lärmbelastung, mangelnde Naherholungsgebiete, etc. Aber das würde den Rahmen hier endgültig sprengen.
Ich hoffe, dass ich dir damit in einen Einblick in das Alltagsleben eines anderen ersten Welt Landes geben konnte und dir damit zeigen kann, dass es trotz der aktuell schwereren Zeit in Deutschland in anderen Ländern nicht zwangsläufig besser ist.